Die Comenius-Forschungsstelle

Allgemeine Informationen zu ihren konzeptionellen Grundlagen

Wissenschaftliche Forschungseinrichtung

Die Comenius-Forschungsstelle hat im April 2015 ihre Arbeit aufgenommen. Sie versteht sich in erster Linie als eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung, die sich mit Leben, Werk und Wirkung des Jan Amos Komenský (1592–1670) im Kontext der frühneuzeitlichen Entwicklungen auseinandersetzt, darüber hinaus aber auch die rezeptionsgeschichtlichen Verflechtungen aufzuarbeiten versucht. In Erweiterung der traditionellen ›Comeniologie‹ rückt daher vor allen Dingen die Erforschung der historischen Mentalitäten, Strukturen und Diskurse verstärkt in den Fokus, wodurch eine isolierte Werkbetrachtung genauso vermieden werden soll wie eine zu enge Fixierung auf die – zweifelsfrei trotzdem sehr spannende – Persönlichkeit. Die Biographik wird dabei nicht überflüssig; doch muss sie sich von der ideengeschichtlichen Beschränkung auf die textlich überlieferte Selbstinszenierung – also von einer naiven Übernahme der Subjektperspektive – lösen, um sich zu jenen latenten Sinnstrukturen vorzuarbeiten, durch die sowohl das mentale Selbstverständnis als auch das soziale Handeln zumeist tatsächlich bestimmt werden. Und auch das Methodenrepertoire wird sich entsprechend erweitern lassen müssen, etwa um textempirische Verfahren, Strukturanalysen oder thematische Vergleichsuntersuchungen.
Ansätze zu einer solcherart erneuerten ›Comenius-Forschung‹ lassen sich durchaus immer wieder finden. Sie im internationalen Kontext zu bündeln, auszubauen und zu stärken wird ein wesentliches Ziel der Forschungsstelle sein.

Interdisziplinäre Ausrichtung

Obwohl die Forschungsstelle selbst überwiegend bildungshistorisch arbeitet, ist sie jedoch zugleich bewusst interdisziplinär konzipiert, um die vielfältigen – etwa soziologischen, politischen, kulturgeschichtlichen, historiographischen oder philosophisch-theologischen – Aspekte angemessen in ihre Forschungen einfließen lassen zu können.
Einerseits trägt sie damit der Tatsache Rechnung, dass es in der Frühen Neuzeit noch keine durchgehende Ausdifferenzierung der Wissensbereiche nach festen ›Fächern‹ gab und auch Comenius selbst – obgleich er sich in erster Linie als Theologe verstand – in seiner All-Weisheit (pansophia) das gesamte Weltwissen zu integrieren und das wahrhaft Allgemeine (verus catholicismus) darzustellen hoffte.
Zugleich nimmt die interdisziplinäre Ausrichtung der Forschung aber auch begründete Überlegungen insbesondere der Historischen Bildungsforschung auf, dass sich einem kontextuellen Verstehen nur durch eine Vielfalt von Perspektiven und Methoden genähert werden kann. Die traditionellen ideen-geschichtlichen Betrachtungen werden damit nicht überflüssig, bedürfen aber einer verstärkt mentalitäts- und sozialhistorischen Einbettung, die nicht einfach nur die Akteursperspektiven widerspiegelt.

Internationale Forschungsbibliothek

Eine optimale Voraussetzung für ihre Arbeit findet die Forschungsstelle in der ihr zugehörigen Fachbibliothek, die mit ihren derzeit etwa 5.000 Zeitschriften und Büchern in mehr als zehn Sprachen zugleich eine gute Möglichkeit zum Auf- und Ausbau auch internationaler Vernetzungen schafft.
Die Sammlung geht im Kern auf die Gelehrten-Bibliothek des 2008 verstorbenen Dr. Dr. h.c. Werner Korthaase aus Berlin zurück, aus dessen Nachlass nicht nur Bücher und Zeitschriften, sondern auch zahlreiche Archivalien und Ausstellungsstücke erworben werden konnten. Die Bestände zu erschließen und die wichtigsten Quellen und Forschungsbeiträge auch digital zur Verfügung zu stellen, wird eine der zukünftigen Hauptaufgaben der Forschungsstelle ausmachen.
Daneben wird sie aber auch eigene Publikationen zur Verfügung stellen, nicht nur Werkinterpretationen, sondern auch Übersetzungen und Rezensionen. Comenius hatte gefordert, alles menschliche Wissen auch tatsächlich allen Menschen zur Verfügung zu stellen; und dieser Forderung gilt es im Zeitalter digitaler Medien auf eine ganz neue Weise zu entsprechen. An der traditionellen Form des ›Buches‹, insofern es einen in sich durchtragenden Gedankengang nahelegt, soll bei allen Publikationen jedoch ausdrücklich festgehalten werden.

Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit

Die Forschungsstelle weiß sich aber nicht nur der Wissenschaft, sondern auch dem kulturellen Erbe des Comenius verpflichtet; und so sucht sie nicht zuletzt auch den Austausch mit der interessierten Öffentlichkeit. Sicherlich können wir die Lösungen, die Comenius damals ersann, nicht einfach auf das 21. Jahrhundert überragen – waren diese doch schon zu seiner Zeit mehr als umstritten. Doch lassen sich an seinem Werk und Wirken zahlreiche Fragen aufwerfen, die bis heute durchaus nachdenkenswert sind.
Worin soll die Verbesserung des Menschen bestehen und wie wollen wir sie erreichen? Welche Rolle kann der Blick auf das ›Ganze‹ in einer Welt spielen, die sowohl durch Globalisierung als auch durch Individualisierung gekennzeichnet ist? Wie müssen Politiker, Kirchen und Wissenschaften gesamtgesellschaftlich zusammenarbeiten, um Toleranz und Frieden zu befördern? Was kann und darf die Schule in diesem Zusammenhang ›bewirken‹ wollen? Wie lässt sich die natürliche Entwicklung des Kindes mit dem Anspruch der Sachen vermitteln? Haben die ›Sachen‹ überhaupt einen Eigenwert oder sind sie nur beliebige Gegenstände unserer Verfügungsgewalt? Wo liegen die Chancen des im Anschluss an Comenius so häufig propagierten ›lebenslangen Lernens‹ in einer ›Welt als Schule‹ – und wo liegen möglicherweise die Grenzen? Macht denn beständiges Lernen allein die Kinder schon glücklich und die menschliche Gesellschaft besser? Und nicht zuletzt: Wieviel Erziehung und Unterricht dürfen wir unseren Kindern zumuten, wo es doch um ihre Freiheit geht – und wieviel müssen wir ihnen zumuten, wenn wir unsere Verantwortung gewissenhaft wahrnehmen möchten? Es sind nicht zuletzt diese gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen, die anhand comenianischer Problemvorgaben beständig neu aufgeworfen und einer öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht werden sollen.

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